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Ein Verbot des Schächtens wäre antisemitisch

1938, als der Antisemitismus zu Deutschland gehörte 1938, als der Antisemitismus zu Deutschland gehörte
1938, als der Antisemitismus zu Deutschland gehörte
Quelle: Getty Images
Die AfD spricht sich in ihrem Programm gegen das Schächten aus. Aber der Brauch der Muslime und Juden gehört zum Recht auf Religionsfreiheit. Was will die Rechtspartei wirklich? Eine Geschichtsstunde.

Die AfD will das Schächten und den Bau von Minaretten verbieten! Allein diese beiden Punkte des am 1. Mai in Stuttgart verabschiedeten Grundsatzprogramms sorgen für Aufsehen. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisiert: Die „gegen den Islam gerichteten Passagen“ zeugten von „Intoleranz und Respektlosigkeit der Partei vor religiösen Minderheiten in Deutschland“. In der Ablehnung des Schächtens sieht er einen nicht hinnehmbaren Angriff auf das Judentum in Deutschland.

Schächten ist eine blutige Angelegenheit. Dabei werden die Gefäße im Hals des Rindes, Schafs oder Geflügels mit einem Messer durchtrennt. Das Tier verliert sein Bewusstsein und blutet aus. Diese archaische Praxis besitzt für Juden und Moslems in rituell-religiöser Hinsicht eine hohe Bedeutung: Nur das Fleisch ausgebluteter Tiere ist für den Verzehr geeignet. Das betäubungslose Schlachten war früher weitverbreitet. Noch im 19. Jahrhundert war es wegen fehlender Betäubungsmethoden in Deutschland gängig, wurde also nicht nur von Juden oder Moslems ausgeübt.

Heute ist betäubungsloses Schlachten warmblütiger Tiere aufgrund des Tierschutzes in ganz Europa verboten. Allerdings gelten für Juden und Moslems mit Rücksicht auf religiöse Bestimmungen begründete Ausnahmen: Schächten ist erlaubt, wenn es ausgebildete Kräfte in Schlachthöfen, mitunter bei tierärztlicher Aufsicht, durchführen. Auch das bundesdeutsche Tierschutzgesetz benennt die Betäubungspflicht bei der Schlachtung, befreit aber Juden und Moslems von diesem Zwang.

Die ewigen Fremdlinge aus dem Osten

Der Entwurf des Grundsatzprogramms der AfD enthielt die Forderung, Schächten nur mit vorheriger Elektrokurzzeitbetäubung zu praktizieren. Auf dem Parteitag fand das keine Mehrheit. Stattdessen wurde das völlige Schächtverbot ins Programm geschrieben. Es wäre in der EU einmalig. Die AfD strebt Verbesserungen im Tierschutz an und möchte gegen Auswüchse der Massentierhaltung vorgehen. Das bleibt abstrakt. Konkret wird allein Schächten ohne Betäubung als „qualvoll“ thematisiert, das Juden und Moslems ausüben. Im Parteiprogramm ist es zwar der Landwirtschaft zugeordnet, aber unschwer erkennbar passt das Schächten zur islamkritischen Polemik der AfD. Ihr gelten die Moslems als nicht integrierbar; ihre Religion wird als fremd und nicht aufklärbar betrachtet. Hier fällt bezüglich des Schächtens eine erschreckende Analogie zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts auf.

Selbstbewusst: Emile de Cauwers Gemälde von 1865 zeigt die Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße
Selbstbewusst: Emile de Cauwers Gemälde von 1865 zeigt die Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße
Quelle: picture-alliance / ZB

Veterinäre und Tierschützer argumentierten in den 1880er/90er Jahren in der Schweiz und in Deutschland gegen betäubungsloses Schlachten, um den Tieren Qualen zu ersparen. Darum entspann sich eine öffentliche Debatte, die auf Juden abzielte. Manche Wortführer sahen in der Schlachtpraxis einen Gradmesser der Zivilisation: Ein jüdischer Metzger, der dem Tier den Hals durchschnitt, galt nicht nur als Beleg der Andersartigkeit der Juden, sondern auch für ihre Rückständigkeit und Brutalität.

Beispielhaft dafür steht ein antisemitisches Gedicht des Schweizer Politikers Ulrich Dürrenmatt: 1893, vor einer erfolgreichen Volksabstimmung gegen das Schächten, sprach er von den Juden als „Fremdlinge aus dem Osten“ und unterstellte ihnen Sadismus und Durchtriebenheit, sei es beim Schlachten oder im Geschäftsgebaren. Die „Schächtdebatte“ der 1890er Jahre war Teil der damals in allen Schichten populär werdenden antisemitischen Hetze. Hierzulande machten die Juden knapp ein Prozent der Bevölkerung aus. Sie hatten in den deutschen Staaten einen beachtlichen sozialen Aufstieg absolviert. Sie fühlten sich als jüdische Deutsche.

1933 wurde das Schächten untersagt

Zwei oder drei Generationen hatte der Prozess der Akkulturation angedauert. Das Gros lebte im Zentrum und nicht mehr am Rande der Gesellschaft. Eine architektonische Entsprechung fand dies in prächtigen Synagogen, die jetzt in den Metropolen an exponierter Stelle standen. Daher verstörte es gehörig, dass in die Schächtdebatte antijüdische Stereotype einflossen. Fortschritte beim Tierschutz wurden von Judenhassern instrumentalisiert, um eine religiöse Minderheit auszugrenzen.

Die Schweiz verbot 1893 das Schlachten ohne vorherige Betäubung. Sachsen hatte als erster deutscher Staat 1892 ein solches Gesetz erlassen. Dort lebten zwar kaum Juden, aber es gab Antisemiten, die das Thema für ihre Zwecke nutzten. 1930/31 ergingen in Bayern und Braunschweig auf Betreiben der NSDAP Verbote. Deutschlandweit wurde betäubungsloses Schlachten 1933 untersagt.

„Der Arier, soweit er nicht sittlich verroht ist, kann im Schächten nur einen Akt von größter Grausamkeit erblicken“, stand im „Handbuch der Judenfrage“ von Theodor Fritsch. Filme wirkten noch effektiver. Goebbels ließ daher antisemitische Hetzfilme produzieren. „Der ewige Jude“ führte die Juden als abscheuliche Wesen vor. Das Schächten nahm hier breiten Raum ein, in äußerst brutal inszenierten Bildern. Den Film zeigte man im Vorfeld von Deportationen sowie vor Polizeieinheiten und KZ-Wachmannschaften. Die Botschaft war klar: Wenn man die Judenvernichtung erbarmungslos betrieb, käme auch das Schächten zu seinem Ende.

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Quelle: Die Welt

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Sofern heute über das Schächten berichtet wird, geschieht dies meist im Zusammenhang mit Moslems. Das von ihnen verzehrte Fleisch muss halal sein, geschächtet also. Doch betäubungsfrei wird hierzulande so gut wie gar nicht mehr geschlachtet. Üblich ist, die Tiere vor dem Schächten elektrisch zu betäuben. Nicht nur das: Das Fleisch wird zu einem sehr großen Teil importiert, etwa aus Belgien. Ähnlich verhält es sich bei den 200.000 in Deutschland lebenden Juden. Koscheres Fleisch wird vorwiegend tiefgefroren aus Frankreich eingeführt. Worauf zielt die AfD ab? Andreas Brämer vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden hält es für „lächerlich“, dies zu einem politischen Thema zu machen. Das sei eine „Phantomdebatte“.

Es gilt beim Schächten die Religionsfreiheit zu beachten: Der säkulare Staat hat sich nicht in die religiöse Praxis von Glaubensgemeinschaften einzumischen. Auch wenn das betäubungslose Schächten in unserem Land nur noch Ausnahmecharakter besitzt, geht es um Toleranz: Moslems und Juden dürfen es tun, weil es Teil ihrer religiösen Riten ist. Von der antisemitisch instrumentalisierten „Schächtdebatte“ der Kaiserzeit zur AfD lässt sich eine Traditionslinie ziehen – für politische Ziele schürt man Vorurteile gegen religiöse Gemeinschaften.

Die neue Polemik gegen das Schächten könnte Millionen Moslems in Deutschland als rückständig verächtlich machen. Die Juden geraten dabei wie zufällig mit in den Fokus. Gegen diese Ressentiments sollte eine aufgeklärte, liberale Gesellschaft entschieden angehen.

Der Autor ist promovierter Historiker, Sachbuchautor und Geschäftsführer der Axel Springer Stiftung.

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